22
Am späten Vormittag des übernächsten Tages verließ Willem mit der Fähre Calais. Es war ein herrlicher Spätsommertag. Die Sonne glitzerte in den lebendigen Wogen. Und der frische Seewind trieb am blauen Himmel eine Herde weißer Wolken nach Osten. Willem war froh, nicht noch einmal die Strecke mit dem Zug durch die gespenstische Röhre unterhalb des Kanals zurücklegen zu müssen.
Kaum an Bord, fühlte er sich bereits zurück in England. Eine Gruppe englischer Schulmädchen spielte um ihn herum Fangen. Englische Touristen schütteten freudig nach ihrem Ausflug auf den Kontinent ihr erstes Pint heimischen Lagers in sich hinein. Willem selbst trank ein großes Glas Bitter und knabberte genüsslich Kartoffelchips, beides Dinge, die er sonst verabscheute, aber passend fand, um seine Rückkehr auf die britische Insel still für sich zu feiern. Knapp neunzig Minuten dauerte die Überfahrt. Und Willem hätte noch länger den fetten Möwen zuschauen können, die neugierig das Schiff umkreisten, wenn London nicht auf ihn gewartet hätte.
Mit geöffnetem Verdeck eilte er in seinem Alfa durch Kent der Sonne entgegen, unter der genau London liegen musste. Der Anblick der Flugzeuge am Himmel, die zur Landung in Heathrow ansetzten, löste eine fast kindliche Freude bei ihm aus, die sich noch steigerte, als er die ersten Londoner Vororte erreichte. Ab Hammersmith kroch die Autoschlange mühsam Meter für Meter in die Stadt. Willem ließ Earl’s Court rechter Hand liegen, um den Stau im Zickzack durch South Kensington zu umfahren. Vor einem modernen Appartementhaus auf der rechten Seite der Sloane Avenue hielt Willem an, sprang aus dem Alfa heraus. »The New Chelsea Cloisters« stand in goldener Schrift auf der grünen Markise über dem Eingang.
Ein freundlicher Portier zeigte Willem ein leer stehendes Appartement im fünften Stock. Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, alles kam ihm im Vergleich zu seiner bescheidenen Unterkunft, die er vor fast fünf Wochen verlassen hatte, geradezu luxuriös vor. Zudem gehörte zu der Wohnung ein Einstellplatz in der Tiefgarage. Der Preis von fünfhundert Pfund die Woche kam Willem angemessen vor. Die Miete für einen Monat legte er bar auf den Tisch im Foyer. Eine halbe Stunde später kam Willem aus der Dusche und ließ sich lang auf das Bett fallen und schlief ein, glücklich wieder in London zu sein.
Am frühen Abend ging Willem ins »Oriel«. Die übliche Angestelltenschar hatte bereits das ganze Lokal in Beschlag genommen. Willem blieb trotzdem, orderte ein Bier.
»Schön, dass Sie wieder da sind. Sie waren wohl in den Ferien?«, begrüßte ihn ein Kellner hinter der Theke, an den sich Willem nicht erinnern konnte.
»Ja, ich war ein paar Wochen verreist, in den Bergen«, antwortete Willem freudig überrascht, dass man ihn wieder erkannte.
»Dann werden wir Sie sicherlich wieder häufiger bei uns sehen.«
»Sicherlich«, sagte Willem, gab ein großzügiges Trinkgeld, nahm sein Bier und setzte sich draußen an einen freien Tisch.
London hatte ihn wieder, dachte Willem, als er auf den Sloane Square schaute. Dennoch hatte er sich nie einsamer gefühlt als in diesem August.
In seinem neuen Zuhause hatte sich Willem schnell eingelebt. Obwohl das neue Appartement mindestens doppelt so groß war wie sein altes, kam es ihm schon nach ein paar Tagen zu klein vor. Es war ja nicht für die Ewigkeit, tröstete sich Willem. Er hatte es nur für den Übergang angemietet, bis er ein größeres fand. Eine Wohnung in einem älteren, aber gepflegten Haus schwebte ihm vor, vielleicht mit Zugang zu einem privaten Garten.
Draußen war es ruhig. Es war Sonntag, sein erster Sonntag seit seiner Rückkehr nach London. Sollte er ins »White Horse« fahren, nachsehen, ob sich seine Bekannten dort immer noch versammelten? Warum nicht? Schließlich könnte es der letzte warme Sonnentag des Jahres sein, an dem man sein Bier unter freiem Himmel trinken konnte, ohne zu frieren.
Willem öffnete das Dach seines Alfas, bevor er aus der Garage fuhr. Am Sloane Square hielt er kurz an, um sich die »Sunday Times« zu kaufen. Dann ging es weiter nach Parsons Green. Willem fuhr direkt vor dem »White Horse« vor, hielt an, ließ den röhrenden Motor seinen Alfas kurz aufheulen, machte eine schnelle Wende und stellte den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Parkverbot ab.
Wie vermutet, traf er auf ein paar bekannte Gesichter.
»Hey, Willem, ist das dein Alfa?«
Soweit Willem sich entsann, war der Name des Engländers, der ihn gerade ansprach, David.
»Hey. Ja, eine Giulia.«
»Nicht schlecht«, meinte ein Deutscher, an dessen Namen sich Willem wiederum partout nicht erinnern konnte. »Können wir uns den Wagen mal näher anschauen?«
»Na klar, ich hole mir nur eben ein Bier.«
Als Willem wieder mit einem Pint Lager herauskam, setzte sich der Trupp in Bewegung und scharte sich um den Alfa. Bereitwillig erteilte Willem jede gewünschte Auskunft über Baujahr, PS-Zahl, Hubraum, Spitzengeschwindigkeit und Beschleunigung. Aber vor allem das italienische Design fand allgemeine Bewunderung.
»Und was hat dich das Schmuckstück gekostet?«, fragte David.
»Ach, eigentlich gar nicht so viel. Keine fünfzehntausend Pfund«, übertrieb Willem mächtig. »Und selbst das war hoffnungslos überbezahlt. Aber ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen. Du weißt ja, wie das ist: Wenn man etwas Schönes sieht, will man es auch haben.«
Seinen braunen Teint erklärte Willem mit einer langen Italienreise, die er soeben in seinem Alfa gemacht hätte. Ausführlich schilderte er die pittoresken Buchten entlang der ligurischen Küste, die sanften Hügel der Toskana und ihre malerischen Dörfer und Städte. Als Geheimtipp empfahl er noch zwei, drei billige, aber exzellente Restaurants, die man angeblich in keinem Reiseführer fände.
Anschließend nahm Willem David beiseite.
»Du bist doch Börsenmakler?«
»Ja, bin ich«, sagte David. »Brauchst einen Rat?«
»Ich habe ein wenig Geld geerbt und wollte es nicht einfach auf der Bank liegen lassen.«
»Wie viel ist es denn, wenn ich fragen darf?«
»Ein paar Hunderttausend.«
David war beeindruckt.
»Damit könnte man schon etwas anstellen. Vor allem das Südasien-Geschäft läuft sehr gut, und es ist todsicher.«
»Wären so fünfzigtausend Pfund als Einstieg okay?«
»Na klar. Am besten, du rufst mich in meinem Büro an. Dann können wir die nächsten Tage alles in Ruhe besprechen.«
David überreichte Willem seine Karte.
»Ich melde mich«, sagte Willem.
Willem trank noch ein Pint und entschuldigte sich dann damit, er habe noch eine Verabredung. Im Rückspiegel registrierte er mit Genugtuung die ihm nacheilenden Blicke. Er hätte gar nicht anzugeben brauchen, dachte er. Hatte er doch Dinge vollbracht, zu denen sie nie in der Lage gewesen wären. Willem lachte über sich und brauste davon.
Trotz des strahlenden Sonnenscheins kehrte Willem in sein Appartement zurück. Er ließ sich auf das Bett fallen, pflückte die dicke Zeitung auseinander. Auf der Titelseite des »Sunday Times Magazine« schaute ihn groß ein wohlbekanntes Augenpaar an. Willem starrte fasziniert zurück. Das Schwarzweiß-Porträt zeigte einen Mann in den Dreißigern mit braunem, leicht gewelltem Haar, der ihn direkt anlächelte. Willem hätte den weißen Schriftzug gar nicht zu lesen brauchen, der in drei Zeilen über die Schulter des Mannes lief, um zu wissen, um wen es sich handelte:
»Henry Hewitt – Leben und Tod eines Gesellschaftslöwen«.
Willem richtete sich auf, umklammerte fest mit beiden Händen das Heft. Alle Empfindungen der letzten Wochen – Angst, Erleichterung, Liebe, Wut, Verzweiflung, Befriedigung – bäumten sich in ihm auf, ballten sich zusammen, rissen ihn noch einmal mit, als müsste er alles, was er in den letzten Wochen erlebt hatte, noch einmal erleben, nur dieses Mal in einem einzigen Augenblick. Hewitt ist tot, Hewitt ist tot, Hewitt ist tot. Doch nichts ist vorbei. Er presste das Heft gegen sein Gesicht, schlug es gegen seinen Kopf, warf es aufs Bett zurück. Dann griff er wieder danach und blätterte, bis er die Geschichte fand.
Das ganze Leben Henry Hewitts schien aus einer endlosen Folge von Anekdoten zu bestehen, die weit in die englische Historie zurückreichten. Und jede drehte sich um Glück, um Geld und um Leidenschaft.
Die erste handelte von einem Anthony Henry Hewitt, der vor mehr als zweihundert Jahren den ganzen Besitz, den seine Vorfahren über Generationen angehäuft hatten, in einer Nacht am Spieltisch verlor. Ein Charles Anthony Hewitt wiederum gehörte einem Regiment an, das vollständig in Afghanistan aufgerieben worden war. Als einzigen verschonten die Aufständischen diesen Charles, damit er die Nachricht von der vernichtenden Niederlage seinen Vorgesetzten überbringen konnte. Statt als gebrochener Mann zu sterben, feierte er sein Überleben jahrelang in Pariser Freudenhäusern mit gepumptem Geld. Und es wurde von Henry Hewitts Vater erzählt, Henry Charles Hewitt, der, eingeladen auf dem Landsitz seines besten Freundes, dessen Frau und dessen drei Töchter verführte, alle in einer Nacht.
Doch seine gesamten Vorfahren, hieß es weiter, würde Henry Hewitt in seinem kurzen Leben an Skrupellosigkeit übertreffen. Als Fünfzehnjähriger musste er die erste Eliteschule verlassen, weil er einen Lehrer wegen einer schlechten Note vor der Klasse zum Duell forderte. Von der nächsten Schule schmiss man ihn zwei Jahre später, nachdem die junge Frau des Direktors ihm öffentlich eine heftige Szene machte, als er die kurze Affäre mit ihr beendete. Auch an der Universität waren Henrys Tage gezählt, als herauskam, dass er gegen Bezahlung Studentinnen an Studenten vermittelte. Und in der Armee fiel er dadurch auf, dass er bei einem Manöver – angeblich versehentlich – drei Panzer eines befreundeten Staates in Brand schoss. Unehrenhaft entlassen, versuchte Hewitt anschließend sein Glück als Börsenmakler. Innerhalb von nur drei Jahren machte er ein Vermögen von zehn Millionen Pfund, allerdings mit Insider-Geschäften, was man ihm aber nicht eindeutig nachweisen konnte. Hewitt gab wenig später von sich aus das Börsengeschäft auf, als er die zehn Millionen Pfund bei einer Spekulation mit südamerikanischen Aktien wieder verlor.
Ohne Geld, aber mit reichlich Charme ausgestattet, gelang es Hewitt dann, das Herz und die Mitgift von Anne-Marie de Montfaucon zu erobern. Mit ihrem Vermögen stieg er in den Handel mit asiatischer Kunst ein, der zu dieser Zeit zu florieren begann. Zum ersten Mal schien Henry Hewitts Leben in geordneten Bahnen zu verlaufen. Er hatte eine schöne Frau, eine Tochter, ein großes Haus im Londoner Südwesten und zwei Autos.
Zudem lag ihm die Londoner Gesellschaft zu Füßen. Bei denen, die schon alles hatten, galt es als schick, bei Hewitt Bronzen und Vasen aus dem Fernen Osten zu erwerben. Sein Rat in allen Angelegenheiten der schönen Künste war gefragt, und auf allen Partys war er ein gern gesehener Gast. Seine zahlreichen Affären mit Blondinen schadeten ihm ganz und gar nicht, sondern erhöhten nur noch seinen Ruf als jedermanns Darling.
Neid erregte sein rascher Aufstieg dagegen in Kollegenkreisen. Bald wunderten sich die Kunsthändler im Westend darüber, wie Hewitt es schaffte, die sprunghaft gestiegene Nachfrage nach asiatischer Kunst zu befriedigen, trotz der sich stetig verschärfenden Ausfuhrbeschränkungen in den Herkunftsländern. Seine Quellen waren schier unerschöpflich und seine Preise konkurrenzlos.
Es bedurfte dreijähriger gemeinsamer Anstrengungen von Zoll, Steuerbehörden und Polizei, um Licht in Hewitts dunkle Geschäfte zu bringen. Selbst Geheimdienste waren an den Nachforschungen in Thailand, Burma und Hongkong beteiligt, um zu belegen, dass Hewitt sowohl mit der russischen Mafia als auch mit asiatischen Regierungsstellen den umfangreichen Schmuggel organisierte. Ein weiteres Jahr verging, um das zusammengetragene Material zu prüfen und Anklage gegen Hewitt zu erheben. Und er wäre ohne jeden Zweifel, so wurde in dem Artikel behauptet, verurteilt worden, wenn er nicht zuvor den Tod gefunden hätte, einen geheimnisvollen Tod, über den bis dato die Polizei nur Vermutungen anstellen konnte.
Haarklein wurde beschrieben, wie sich nach den Ermittlungen der Polizei die Befreiung der Tochter auf dem Parkplatz in der Nähe des Flughafens abgespielt hatte. Doch wieder war von zwei russischen Tätern die Rede, von denen nur die Identität des einen zweifelsfrei festgestellt werden konnte, weil man ihn wenige Tage später tot auf einem Bahngleis im Süden Londons auffand. Aber er sei ebenso wie auch der andere Beteiligte wahrscheinlich nur ein Handlanger der russischen Mafia gewesen, die hinter der Entführung steckte. Nur über die Motive der Mafia war die Polizei sich offenbar nicht schlüssig, hieß es in dem Magazin. Entweder schuldete Hewitt der Mafia noch Geld, das sie mit der Entführung aus ihm herauspressen wollte, oder die Mafia wollte Hewitt wegen des bevorstehenden Prozesses unter Druck setzen, seine Verbindungen nicht preiszugeben.
»Das Geheimnis seines Todes nahm Henry Hewitt mit in sein Grab.« Den letzten Satz las Willem wieder und wieder, obwohl er ihn sofort auswendig konnte. Er war sich sicher, dass der Artikel, der zehn eng bedruckte Seiten füllte, nicht auf Spekulationen des Autors beruhte, sondern vor allem auf Informationen der Polizei. Dann las er nochmals den ganzen Artikel von Anfang bis Ende.
Alles schien schlüssig. Wenn er es nicht selbst besser wüsste, dachte Willem, müsste alles sich ganz genau so zugetragen haben. Er legte das Heft beiseite und sprach noch einmal den letzten Satz laut: »Das Geheimnis seines Todes nahm Henry Hewitt mit in sein Grab.« Sollte doch alles vorbei sein?